Er liebte es, wenn die Leute über ihn lachten. Freude erfüllte ihn, wenn er die strahlenden Kindergesichter sah. Stolz machte es ihn, wenn sich Erwachsene über seine Späße auf die Schenkel schlugen. Zu Tränen gerührt nahm er bei der Schlussparade den Applaus entgegen. Er, der Clown in seiner kurzen, engen Lederhose, darüber das Pionierhemd mit Halstuch, mit einem Panamahut auf dem Kopf und mit einer riesigen Schnapsnase über seinem breitroten Mund, war die Hauptattraktion des Staatszirkus der DDR.
In der Artistengemeinschaft fand er Aufgabe, Heimat und Hilfe. Er liebte den Zirkus und er fühlte sich von ihm geliebt. Bis zum Kunstpreisträger der DDR hatte er es gebracht.
Mitte der siebziger Jahre führte er als Musikclown eine Nummer mit einem Esel vor, der die Trommel zu dem Lied „Ein Männlein steht im Walde“ betätigte. Als der einmal den Rhythmus verfehlt hatte, rief der Clown dem Tier zu: „Erich, du bist aus dem sozialistischen Gleichschritt gekommen!“
In hohem Bogen flog der Possenreißer wegen staatsfeindlicher Äußerungen aus der Zirkusarena in ein Zimmerchen in Bautzen.
Vom Bautzener Turmstübchen fand er den Weg zurück in die Arena des Privatzirkus Wolf Hein. Als sich der Direktor des Zirkus mit „Schwichtel, wie Wichtel, nur mit Scheiße vorn dran“ vorgestellt hatte, ahnte er die Primitivität an seiner neuen Arbeitsstelle. Für Applaus oder Lacher musste er tief in die Klamottenkiste greifen. Die Leute lachten, wenn er dreimal hintereinander über den Stuhl fiel! Sie lachten, wenn ihm seine Assistentin einen Eimer Wasser über den Kopf schüttete! Sie lachten, als er wegen einer missglückten Jongliernummer hysterisch weinte! Und als einmal bei seiner Wildschweinnummer das Tier einen schönen Haufen machte, entfuhr es ihm: „Das ist Erichs Wirtschaftspolitik.“
Nach weiteren drei Monaten in Bautzen fand er eine Stelle als Putzmann im Theater am Schiffbauerdamm.
Dort begegnete er kurz vor der Premiere des Stückes „Der Selbstmörder“ von Nicolai Erdmann den fluchbeladenen fünf Buchstaben. Der Staatsratsvorsitzende wollte seinen Ehrenplatz einnehmen, stockte, trat zur Seite und flüsterte mit dem Intendanten. Dieser rannte zum Clown und schrie ihn an: „Der Platz des Staatsratsvorsitzenden ist schmutzig!“ Der Clown wurde vom Intendanten am Ärmel mitgeschleift, um einen großen braunen Fleck mit einem Polsterschaum zu entfernen; ein bisschen Braun blieb übrig. Im ersten Akt spürte der Ehrengast, dass Sauberkeit mit Feuchtigkeit verbunden ist.
Nach der Wende übernahm eine westliche Reinigungsfirma die Säuberung des sozialistischen Theaters und entließ ihn.
Eine neue Chance, ein neues Leben, sagte er sich und gründete die Firma „Gesund durch Lachen – der Krankenhausclown Erich“. Ein paar Jahre tingelte er erfolgreich durch die Berliner und Potsdamer Krankenstuben. Erneut blühte er auf, wenn er die lachenden, krebskranken Kinder sah oder auf einer Krankenstube mit alten Frauen Erinnerungen an früher austauschte und im Männerzimmer Honeckerwitze erzählte. Vom Senat der Stadt bekam er sogar eine Bürgermedaille für seine sozialtherapeutische Tätigkeit.
Aber in der Zeit der Dotcomblase wollte niemand mehr die Dienste eines Krankenhausclowns in Anspruch nehmen und bezahlen. Nur noch die Mitarbeiter des Arbeits- und Sozialamts erfreute er mit seinen Lustigkeiten.
Tagelang schaute er in seiner Einraumwohnung im dritten Hinterhof am Prenzlauer Berg auf sein Leben zurück. Oft stand er am Fenster seines Zimmers im fünften Stock – nur öffnen und springen und im Hinunterfallen lachen: hahaha! Schließlich ist er Clown.
Aus dem schwarzen Loch tauchte eines Tages die Idee auf, als Aktionskünstler etwas Einmaliges zu inszenieren. Mit seiner wiedergefundenen Lebenskraft richtete er auf einem verlassenen Industriegelände in einer Werkshalle einen Raum für seine Vorstellung her. Einladungszettel verteilte er in der Umgebung. Darauf konnten die Bewohner des Prenzlauer Bergs Folgendes lesen:
01.05.2014
schneide ich mir jeden Tag
um 17.00 Uhr
ungefähr 2 Gramm Fleisch aus meinem Körper.
Eintritt frei. Spenden sind willkommen.
Erich, Clown und Aktionskünstler
Erlösungsgasse 1
Wieder so ein Spinner, sagten sich die Leute und vergaßen die Angelegenheit.
Drei neugierige Damen aus dem Altenheim Ernst Thälmann näherten sich zur angekündigten Zeit dem verwahrlosten Werksgelände und saßen bald auf den wackeligen Stühlen. Etwas betreten beobachteten sie, wie der Clown in seinem Kostüm aus seiner Zeit im Staatszirkus – Lederhose, Pionierhemd, Honeckerhut und Clownsgesicht mit übergroßen Schuhen – seinen Auftritt spielte. Wackelnd schlurfte er heran, zog seinen Hut vor ihnen und verbeugte sich großartig mit breitem Grinsen, watschelte in die Mitte eines freien Raumes, verbeugte sich abermals, öffnete die Hosenträger und zog das Pionierhemd aus. Lächelnd stellte er einen CD-Player an und es ertönte aus der Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach das Lied „O Haupt voll Blut und Wunden.“ Lächelnd öffnete er einen schwarzen Lederbehälter und hob andächtig ein scharfes Metzgermesser aus dem Etui, das er den Damen zeigte. Die Strophe
Ist alles meine Last;
Ich hab’ es selbst verschuldet,
Was du getragen hast“
begleitete das Ansetzen des Messers am linken Oberarm und den kräftigen Schnitt in das Fleisch. Die anfänglichen Schmerzen ließen kurz das Lächeln zittern. Dann war es vorüber. Mit großartiger Geste legte er einen Verband über die Wunde an, ging zu den Damen, verbeugte sich clownsmäßig übertreibend, wies sein Stück Fleisch vor und schritt zu den Zeilen
Zum Trost in meinem Tod,
Und laß mich sehn dein Bilde,
In deiner Kreuzesnot“
gravitätisch watschelnd zum Kleinbüro, in dem er verschwand. Die Damen applaudierten begeistert.
Beeindruckt von dieser Vorstellung erzählten sie beim Abendessen anderen alten Damen und Herren von ihrem Erlebnis. Es sei wie ein Gottesdienst so feierlich und doch so unterhaltsam wie im Zirkus gewesen. Sie hätten sich irgendwie gebessert gefühlt; jedenfalls seien sie als andere Menschen herausgekommen, als sie hineingegangen waren.
Am nächsten Tag besetzten zehn Besucher aus dem Altenheim Ernst Thälmann die Stühle und wollten sich verwandeln und verzaubern lassen. Der Erfolg zeigte sich in begeistertem Applaus und kleinen Spenden.
So füllte sich die heruntergekommene Werkshalle jeden Tag mit mehr Neugierigen, die der Selbstverstümmelung zusehen wollten. Der Clown schöpfte Hoffnung auf eine Wiederherstellung seiner Berühmtheit.
Den Körperteil der Exzision wechselte er täglich, um größtmögliche Schonung zu erreichen.
Die Veranstaltung wurde Kult. Nachdem einige Anzeigenblätter, dann seriöse Zeitungen anerkennende Berichte veröffentlicht hatten, mietete er in den Hackeschen Höfen einen großen Saal für zweihundert Leute. Als Eintritt verlangte er nun 10 Euro, Wochenkarte 50 Euro, Monatskarte 180 Euro. Wer allerdings zusätzlich einen Scheck ausstellte, der durfte durch die Absperrung und eigenhändig ein Stück Fleisch heraussäbeln.
Eine Gegenbewegung gegen die künstlerisch-clowneske Exzision formierte sich. Ein Pfarrer verlangte die Einstellung dieser pseudoreligiösen, blasphemischen Veranstaltung, Vertreter der Ärzteschaft wiesen auf die Infektionsgefahr hin, Psychologen warnten vor den Einflüssen vor allem auf sich ritzende Mädchen. Menschenrechtsanhänger demonstrierten gegen die Selbstverstümmelung, Künstlerkollegen veranstalteten eine Gegendemonstration für die Freiheit der Kunst.
Enthusiasmiert von dem großen Erfolg setzte der Clown mit neuem Selbstbewusstsein die Veranstaltung fort und säbelte sich Gramm um Gramm Tag für Tag aus seinem Körper, der nun schon von tiefen Narben gezeichnet war. Ausgleich schufen 80.000 Euro auf dem Konto.
Bald beteiligte sich das ganze Land an der Diskussion über die Kunstsäbelei. Alle waren eigentlich dagegen, aber alle wollten es sehen, sodass ein Fernsehstudio in eine Nachbarwohnung eingebaut wurde. Täglich um 18.00 Uhr brachte ein Privatsender einen viertelstündigen Bericht über den Tag „Bei Erich“ mit ausgewähltem Publikum. Als Renner für die Bekleidungsindustrie erwiesen sich das Pionierhemd und der Panamahut a la Honecker, den auch der Bundeskanzler trug.
Das Bankkonto des Clowns war mittlerweile auf beinahe eine Million Euro angewachsen. Die Kritik war angesichts der Beliebtheit der Veranstaltung verstummt. Es sei halt ein Zeichen für unsere Zeit, meinten skeptische Zeitgenossen.
Ein Beirat aus Ärzten, Medienfachleuten, Politikern und Geistlichen beriet den Aktionskünstler dabei, wo und wie er sich das nächste Stückchen Fleisch herausschneiden sollte. Zu Weihnachten und Ostern schnitt er, umrahmt von einer Fünfgängemenü-Revue, nach dem vierten Gang seine zwei Gramm aus dem Körper. Eine Damenkapelle spielte dazu „Bei mir bistu schejn“.
Da es langweilig wurde, immer nur ein unschädliches Muskelstückchen herauszuschneiden, kam der PR–Berater auf die Idee, den Penis zu entfernen. Wochenlange PR-Arbeit düngte den geistigen Boden mit religiösen Vorstellungen. Ein Jubellied über die Eunuchenpriester der Kybele düngte den geistig-seelischen Boden, der für den Triumphzug nötig war. Man wählte mit Bedacht Pfingsten als Sendetermin aus, weil dies der Tag des Heiligen Geistes ist, dem man der Einfachheit halber auch Eunuchentum zuschrieb.
Ein Zug durch Berlin wurde geplant, ein Zug mit einundzwanzig Musikwagen, die heiße Rhythmen mit höchster Lautstärke in die Menge pfeffern sollten. In der Mitte des Zugs, auf dem elften Wagen, musizierte das berühmteste Orchester der Stadt mit dem berühmtesten Chor der Stadt und den berühmtesten Gesangssolisten der Stadt andauernd den vierten Satz der neunten Symphonie von Beethoven, wo sich, in griechischen Kurzröckchen gekleidet, Männlein und Weiblein umschlangen.
Unter ihnen saß der nur mit dem Honeckerhut bekleidete Clown auf einem vier Meter hohen Thron. Die Menschen jubelten ihm zu und voller Stolz winkte er in die Menge, warf Geldscheine in sie, genoss ihre Aufmerksamkeit in vollen Zügen, sah er doch nur lachende Gesichter.
200 Millionen Zuschauern erlebten dieses Ereignis am Fernsehapparat. Public Viewing in allen größeren Städten ließ das Konto von Catering Firmen anschwellen.
Auf einer riesigen Bühne mitten im Olympiastadion, das berstend voll war, durfte eine berühmte Dame der obersten Gesellschaft das Messer führen; ihr Gesicht war hinter einer Maske versteckt, aber jeder wusste, dass es die … war. Sie bezahlte für diese Ehre eine Million Euro. Der rasende Rhythmus aller Musiker des Zuges brachte den Clown in solche Verzückung, dass er von dem Schnitt der Dame nichts spürte. Triumphierend hielt sie den jubelnden Fans des Clowns den Penis entgegen und setzte ihm den Panamahut auf. Der Penis mit Hut fand an hervorragender Stelle seinen Platz im Deutschen Historischen Museum.
Das rechte Auge zu Allerheiligen war kein großer Erfolg, die Zunge zu Sylvester ein Quotenmiesling.
Das Bankkonto des Selbstverstümmlers belief sich zwar auf 22 Millionen Euro, aber der Höhepunkt seiner Karriere war überschritten.
Wann würde er damit aufhören? Diese Frage beschäftigte schon kaum mehr jemanden. Die Fernsehübertragungen wurden eingestellt, weil eine Frau, die eine Wette über sieben Millionen Mark abgeschlossen hatte, dass sie innerhalb eines halben Jahres ihr Gewicht von 67 Kilo auf 250 Kilo steigern würde, weitaus höhere Einschaltquoten hatte als der Clown. Dieser war so auf seine Aufgabe konzentriert, dass er nicht mehr aufhören konnte, selbst wenn er es gewollt hätte.
Entstellt und verstümmelt säbelte er an seinem Körper weiter. Unappetitlich war er jetzt anzusehen. Seine Berater hatten ihn längst verlassen. Die Millionen von seinem Konto waren mit ihnen gegangen.
In einer Einraumwohnung in Friedrichshain sahen nur wenige unermüdliche Anhänger seiner Verstümmelung zu und spendeten ein paar Euros. Nur noch einmal den Zustand erreichen, den er so oft im Staatszirkus der DDR erlebt hatte, das sehnte er inniglich herbei. Er hatte es notwendig, die Aufmerksamkeit auf sich gerichtet zu spüren, das war ihm notwendig wie die Luft zum Leben, wie das Wasser zum Schwimmen, wie das Herz zum Lieben, das war sein Lebenselixier.
Mit den Ohren musste es gelingen.
Die letzten Freunde klebten Werbezettel rund um sein Zimmerchen in Friedrichshain auf. Nur neun Leute kamen zu dieser Veranstaltung, Penner zumeist, die ein warmes Plätzchen suchten, denn am Aschermittwoch brach die Kältewelle aus dem Osten über Berlin herein. Ein Misserfolg.
In den nächsten Tagen führte er heroisch sein Schauspiel im leeren Zimmer auf. Als körperliches Wrack, das humpelte und sich wegen seiner Blindheit nur tastend fortbewegen konnte, mit verzerrtem Gesicht, denn die Wunden heilten langsamer und die Narben schmerzten, erregte er die Abscheu seiner Mitbewohner des Mietshauses. Der Hausbesitzer warf ihn einfach hinaus.
Der Clown schleppte sich zum schützenden S-Bahn-Tunnel und ließ sich unweit des Zugangs zu den Zügen nieder, legte seinen Hut vor sich hin, um damit den Lebensunterhalt zu verdienen.
Am Abend des Gründonnerstags begoss ihn eine besoffene Bande jugendlicher Mädchen und Jungen mit ihren Bierflaschen. „Wehr dich doch!“, schrie ihn der glatzköpfige Häuptling an. Der Bettler lag reglos da. Ein Fußtritt. „Wehr dich doch!“ Wieder keine Reaktion! Die Jungen nahmen ihre Schwänze aus der Hose und bepinkelten den Künstler: „Wehr dich, du Feigling!“ Die Gruppe war mit ihrer Geduld am Ende. Kichernd die Mädchen, lachend die Jungen, schlugen sie auf ihn ein und traten ihn mit den Füßen.
Einmal hatte er es so geliebt, wenn Menschen über ihn lachten. Er sah die fröhlichen und strahlenden Kindergesichter im Staatszirkus der DDR vor sich, er sah, wie er …
Eine Polizeistreife beendete die Tortur des Clowns.
Am nächsten Tag verschied er in der Charité.
Sein Panamahut lag einige Zeit in einer Ecke, bis ihn eine Reinigungskolonne …