Als fünfjähriger Junge begeisterte Serenus Sacer Fernsehzuschauer und Konzertbesucher mit seiner Geige. Besonders Mütter und Großmütter jauchzten vor Entzücken, wenn das Kind und später der Jüngling im feinen Anzug mit Fliege auf die Bühne tippelte, sich artig verbeugte, vor das Orchester trat und anfing, die Hummel von Rimsky-Korsakow in einem hummelfremden Tempo durch einen Konzertsaal und Millionen Fernsehapparate fliegen zu lassen.
Als er an seinem achtzehnten Geburtstag bei einer beliebten Show am Samstagabend auftrat und ihn der Moderator fragte: „Was fühlen Sie, wenn Sie eine nackte Frau sehen?“, zerschlug er die Geige auf dem Kopf des Fragestellers und ging von der Bühne.
Fünf Jahre hörte und sah man nichts mehr von ihm.
Dann verbreitete sich eine Nachricht rasend schnell: „Sacer spielt ein Konzert auf der Waldbühne.“
Sein Auftritt: Die dreihundert Mann zweier Symphonieorchester und ebensoviele Choiesteintonierten den Triumphmarsch aus Aida. In dem Strahleweiß der Schweinwerferbatterie erschien Serenus Sacer, übergroß auf den Fernsehbildwänden, winzig auf der Bühne.
Ekstatischer Beifall stieg in die Berliner Luft: Mit einem leuchtend grünen Haarbusch füllte der Geigenvirtuose die Fernsehbildwände aus. Seine Kleidung in Patchworkmanier einer Kasperlefigur fesselte die Aufmerksamkeit der Zuschauer. Seine Geige, ganz aus Glas, glitzerte festlich. Mit ihr jagte er, poppig rhythmisiert, Till Eulenspiegel durch seine Streiche, als wäre Richard Strauß mit Joey Tempest auf der Bühne. Jung und Alt, Mozartjünger und Kegelbrüder jubelten diesem neuen und alten Star der Unterhaltungsmusik zu
In den nächsten Jahren wurden Haarbüsche a la Sacer Kennzeichen der Jugend, das Kasperlemuster beschäftigte die Haute Couture und die Unterhaltungsmusiker bedienten sich aus dem klassischen Repertoire.
Beim zehnjährigen Jubiläumskonzert auf der Waldbühne störte es Sacer, dass die Leute, während er spielte, aßen und tranken und miteinander redeten. Seiner Aufforderung nach Stille folgten sie nicht. Diesmal zertrümmerte er nicht nur seine Geige, sondern auch das Dirigentenpult, eine Harfe und drei Celli. Die Zuhörerschaft schloss sich seinem Verhalten an und zerlegte alles, was nicht niet- und nagelfest war.
Diesmal hüllte sich Sacer sieben Jahre lang in Schweigen, bis eine Zeitung ankündigte: „Sacer spielt wieder.“
Mit größter Spannung erwartete die gesamte Öffentlichkeit dieses Ereignis. Schon die Eintrittspreise erregten Aufmerksamkeit: Ein Platz in der letzten Reihe der Alten Kapelle in Regensburg kostete 10.000 €, in der ersten Reihe 100.000,00 €.
Am Abend der Aufführung erschien Sacer in einem langen, weißen Mönchsgewand, kahlköpfig, mit einer Geige ganz in Weiß, setzte sich, ohne auf den frenetischen Applaus zu achten, auf einen einfachen Küchenstuhl vor dem Hochaltar – und wartete. Nach einer Viertelstunde hob er Instrument und Bogen und spielte zehn Minuten lang den Kammerton, das eingestrichene a. Danach stand er auf und verschwand.
Die Besitzer der teuren Karten schwärmten noch jahrelang von dem Konzert als das wichtigstes Erlebnis in ihrem Leben. Ein Kritiker resümierte: „In diesem Konzert ist nicht nur die Musik zu sich selber gekommen. Diese Musik bessert die Menschen.“
Von Serenus Sacer hat man nie wieder etwas gehört.
Und die Konzertbesucher schwiegen auf die Frage ihrer Enkel, ob sie denn auch tatsächlich bessere Menschen geworden seien.