„Matharis, du Gute, Matharis, du Reine, behüte und beschütze uns in deinem Heime.“
Ergriffen lauschte Matharis, die Göttin der Liebe, dem Gesang des Volkes von Axmundi. Heute war ihr Ehrentag: der 9. November. An diesem Tag zelebrierten die Stadtbewohner das alljährliche „Geistfest der Harmonie“ zum fünfzigsten Mal. Sie dankten Matharis für die Befreiung von der Herrschaft Archéns, des Gottes des Hasses, der den Menschen die wahre Hölle bereitete. Vor fünfzig Jahren kämpfte Matharis gegen ihn und siegte. Axmundi war von der Tyrannei des Hasses befreit. Nach seiner Niederlage verschwand Archén spurlos.
Ohne den Hass entstand eine Gemeinschaft, die Menschen und Natur in harmonischer Liebe einte. Ungleichheiten, Ungerechtigkeiten und Untaten gab es nicht mehr in Axmundi. Alle verdienten so viel Geld, wie sie in einem Monat sinnvoll und verantwortungsbewusst ausgeben wollten. Jeder arbeitete, solange es seine Kräfte erlaubten, ohne sich zu überanstrengen oder zu faulenzen. Ab dem fünfundzwanzigsten Lebensjahr zogen zwei Erwachsene zur Bildung einer eheähnlichen Gemeinschaft mit zwei bis vier Kindern zusammen. Die Babys holten sie im „Kaufhaus der Mitte“ in der Abteilung »Lebendiges« ab. Scheidungen gab es keine. Gefängnisse waren überflüssig geworden. Krankheiten waren ausgerottet. Die Liebe ordnete alle Lebensbereiche ihren Vorstellungen von Anstand, Rücksichtnahme und Fürsorge unter.
Ein Computer steuerte dies alles vom „Heiliggeistturm“ aus. Er verteilte den Intelligenzeinsatz bei jedem Menschen. Eine Software konstruierte die aktuell nötigen Moralvorstellungen. Für die Ernte berechnete der Computer die Menge der benötigten Sonnenstunden und des Regens und setzte die „Wettermacher-Rakete“ in Bewegung. Die Befehle an die Menschen gelangten durch elektromagnetische Schwingungen in eine im Hirn eingepflanzte Minikapsel, die die Signale in eindeutige Gedanken und Handlungen umsetzte. Niemand konnte sich dem entziehen.
Vier Männer und vier Frauen, das „Kabinett“, wachten über dieses Herz von Axmundi. Was zu geschehen hatte, teilte ihnen die Göttin der Liebe im Schlaf mit.
*
Feierlich zog die Bevölkerung an Matharistempel vorbei und sang: „Wir ehren dich, wir lieben dich, wir …“
Da flüsterte der Göttin eine unangenehm spitze Stimme in das rechte Ohr: „Oh, Matharis, dich vernichte ich,
Oh, Matharis, dich zerstöre ich!
Oh, Mathais, ich räche mich fürchterlich!“
„Archén!“
„Erfreut, dich zu sehen.“
„Verschwinde, reicht dir die letzte Niederlage nicht?“
Matharis stieß Archén von sich weg. Der drang weiter auf sie ein, bis sie nicht mehr ausweichen konnte.
„Jetzt habe ich dich! Du wirst für meine Niederlage büßen!“
„Die Menschen haben sich für mich entschieden, für die Liebe. Schau nur hinunter, wie sich mich anbeten, mich, nicht dich.“
„Das werde ich ihnen versalzen. Ich bin nicht mehr der Tölpel von früher. Du wirst verlieren.“
Sein meckerndes Gelächter ging der Göttin der Liebe durch Mark und Bein. Sollte er jetzt wirklich überlegen sein?
Der Himmel verdüsterte sich urplötzlich. Mit grellem Geschrei stürzten sich groteske, pferdeähnliche Figuren von allen Seiten auf die Betenden. Mit ihren hörnergespickten Köpfen durchbohrten sie die Umstehenden. Die bulligen Vorderbeine trampelten Liegende zu Tode. Das schwanzförmige Hinterteil mähte die Matharisjünger wie Grashalme um. Die meterhohen Körper der Monster walzten todbringend die Massen der Feiernden nieder.
Aber die Menschen hatten im Nu Waffen aus allen möglichen Gegenständen gemacht, sodass sie bald alle Schreckenstiere umgebracht hatten. Matharis umwarb Archén: „Sei friedlich. Begrabe deinen Hass und lebe mit uns ein Leben in Liebe. Du bist uns willkommen. Wir lieben auch dich!“
„Ich soll hier bei euch leben, meinen Garten pflegen und als Religionslehrer meine Zeit vertrödeln? Womöglich auch noch heiraten? Dich vielleicht?“
„Wäre eine gute Idee. Was ist daran so schlimm?“
„Mein ganzes Wesen müsste ich ändern. So, wie ich lebe, lebe ich gern!“
„Du hast wieder verloren. Gib auf! Deine ganze Streitmacht ist tot.“
„Du wirst noch überrascht sein!“, höhnte Archén. Auf seinen Wink hin erschienen neue Monster. Wie eine Armee von Panzern bewegten sich krebsähnliche Gebilde auf die Menschenmenge zu. Sie schleuderten Feuerstrahlen heraus, die die Kleidung der Menschen erfassten und sie als lebendige Fackeln durch die Straßen jagten, bis sie tot zu Boden sanken. Leichengestank und Todesschreie meldeten den kommenden Sieg Archéns. Die Menschen rannten, warfen sich zu Boden und wimmerten ihrem Verbrennungstod entgegen. Bald hatten die Unterlegenen aber ein Gegenmittel gefunden. Mit unzähligen Rohren bespritzen sie die Krebsgebilde mit kochendem und vergiftetem Wasser, so dass sie in ihrem Panzer ertranken. Auch von der Gruppe der Liebendenden waren viele verwundet oder tot.
„Deine Menschen sind für Leute der Liebe ganz schön aggressiv.“
„Lieben heißt nicht Wehrlossein. Du hast uns angegriffen, nicht wir dich. Und jetzt bist du der Verlierer. Noch mal ein Angebot. Werde friedlich, vergiss deinen Hass und lebe mit uns.“
„Leben nennst du das? Deine Marionetten dämmern von Tag zu Tag unter deiner Nächstenliebe-Diktatur dahin. Sie vertrödeln ihre Lebenszeit unter deiner Wattebauschregierung, die sie erstickt. Mein Hass weckt sie auf, bringt Buntheit in ihr Leben und reinigt ihre Seele. Hass macht frei!“
„Du verbreitest nur Mord, Totschlag, Vergewaltigung, Betrug, Streit …“
„Hör auf, hör auf, beides macht das Leben lebenswert. Ein Leben ohne Leid bringt keine Freude. Nur jubeln macht dumm und Bravheit wird zur Lahmarschigkeit! Du befriedigst nur deine Selbstsucht, wenn du dich von ihnen so schmalzig ansäuseln lässt. Ich werde sie vor dir retten. Ich werde …“ Archén fuchtelte wild mit seinen Armen in der Luft herum.
Ein riesiger Drache verdunkelte die Szene. Er düste über die verblieben Menschen hinweg und spritzte so viel Exkremente aus sich heraus, dass die Menschen bis zum Hals drinnen stecken blieben. Jammervoll schlugen die Hilfeschreie an das Ohr ihrer verehrten Göttin. Die sah sich ratlos um.
„Na, am Ende deines Lateins, Magna Mater? Bin halt doch der Stärkere.“ Ein Wink ließ den Drachen erneut über die Stadt so lange fliegen, bis nur noch ein Hügel zu sehen war.
„Das überleben sie nicht, deine Menschlein. Sie ersticken in diesem Haufen. Mögen sie in Frieden ruhen. Was soll ich jetzt mit dir machen, du Süße? Wer ist nun der Sieger?“
Im Nu zauberte er ein Sammelsurium von Marterinstrumenten herbei. „Diese Instrumente habe ich in jahrelanger Arbeit nur für dich erfunden. Ich hoffe, du weißt das zu schätzen. Wir werden beide Spaß daran haben!“
Matharis zog sich zurück.
„Du entkommst mir nicht“, jubelte Archén.
Mit einer Nilpferdpeitsche schlug er in Richtung Matharis.
Aber diese hielt sie in der Mitte zwischen ihnen auf und verwandelte sie in einen Monitor.
„Fernsehen bildet, Archén, Schau, was für ein Wunderwerk ich, die Göttin der Liebe, in deinem Hügel von Scheiße gemacht habe.“ Auf dem Bildschirm erschien eine prächtige unterirdische Stadt. Gesang ertönte, Kirchenglocken dröhnten, die Menschen jubiierten: „Oh, Matharis, du …!“
„Meine Liebe überwindet deinen Tod“, kommentierte Matharis.
Wutentbrannt schrie Archén: „Ich habe noch …“
„Du hast keine Chance mehr.“
Sprach‘s, packte den Gott des Hasses und schlang ihn in sich hinein.
Seither geht die Liebe mit dem Hass im Bauch umher.
Und die Menschen?
Das steht in den Geschichtsbüchern.