Körperlich gesund, aber traumatisiert, kommt Adam Angsterer aus dem Zweiten Weltkrieg nach Hause. Seine Wutanfälle und Weinkrämpfe überschatten das Leben mit seiner Frau Désirée und seinem Sohn Wolfram, der 1946 geboren wurde.
Die Mutter zieht sich zurück. Der Junge flieht zu anderen Leuten, um dort Halt zu finden. Aber auch dort begegnen ihm Angst und Gewalt. Der Zweite Weltkrieg ist allgegenwärtig. Immer wieder versucht Wolfram, die bedrückenden Situationen zu meistern. Dabei schwankt er zwischen Liebe zu den Eltern und Angst vor ihnen, zwischen Lebenslust und Verzweiflung. Es gelingt ihm, die Krisen zu überstehen, bis …
Der Roman bietet ein buntes Bild der Gesellschaft aus Sicht eines ‚Nachkriegskindes‘. Er zeigt, wie sich der Krieg in anderer Form fortsetzt.
AAVAA Verlag 2015, 207 Seiten 9,95 € ISBN: 978-3-944223-54-4
Großdruck, 456 Seiten 9,95 € ISBN: 978-3-944223-54-X
Minibuch, 322 Seiten 7,95 €
e-Book 6,99€
Wann ist der Krieg zu Ende? Flyer
Leseprobe:
Wolchow
„Deutsche Volksgenossen und Volksgenossinnen …“
Blechern schnarrten die Laute über verschneite Felder, wogten durch das Gestrüpp nahegelegener Wälder, prallten gegen die zerschossenen Mauern des Städtchens Wolchow und machten die in halbzerstörten Bauernkaten verbliebenen Alten, Mütter und Kinder zittern.
Aus den geöffneten Fenstern einer Bretterbude, in der die Apotheke des Feldlazaretts kümmerlichen Unterschlupf gefunden hatte, beschallten diese Wörter die Ortschaft.
„Deutsche Volksgenossen und Volksgenossinnen!“
Das Johlen einer kleinen Gruppe von sieben Saufbrüdern begleitete die gebrüllten Silben; „Weida“-Rufe und „Bravo, Adam!“ und „Jetz werd’s lusti!“ zeigten die Gier der saufenden Soldaten nach Belustigung.
Adam Angsterer, Sanitätsunteroffizier, im bürgerlichen Leben Fotograf, hechtete seinen schlanken Körper auf einen Tisch, nahm seine Brille ab und steckte sie weg, befeuchtete seine schwarzen Haare mit Spucke, sodass er sie tief in die Stirn hereinziehen konnte und sie dort klebten wie beim nachgeäfften Unhold, verlieh seinem schmalen Gesicht fanatischen Ernst und stierte auf das Regal mit den Flaschen reinen Alkohols, aus denen er einen Schnaps für seine Kameraden der Sanitätsabteilung des Grenadierregiments 19, gestandene Urbayern aus Landshut, München, Rosenheim, Augsburg, Freising, gebraut hatte, damit er ihnen die Kälte aus den Gliedern trieb und das Gehirn vernebelte, dort die Bilder zerstückelter Menschenleiber milderte, sie in angenehme Vorstellungen verwandelte und letztlich in den Anblick der Geliebten zu Hause, die man ja verteidigte, auflöste. Aus seiner rechten Hosentasche zerrte er einen Kamm und hielt ihn so vor die Nase, dass er einen großen Teil mit der Hand abdeckte und nur ein kleiner Teil auf der Oberlippe hitlerschnauzbartig Platz fand. Sein Kinn reckte er weit nach vorne. Langsam hob er es. Dann drehte er den Kopf nach links, nach rechts, musterte ausdruckslos die Zuhörerschaft, fixierte die Alkoholflaschen:
„Deutsche Volksgenossen und Volksgenossinnen!“
Und nun hetzte Adam furios durch die Phrasen aller Hitlerreden „… und Gott führte einen Österreicher in das Deutsche Reich …, … ich, ein kleiner Gefreiter …, … durch Gottes Vorsehung gesandt …, … Versailler Diktat …, … Lebensraum …, … Boden …, … gesunder Volkskörper …, … Schmarotzer …, … jüdische Weltverschwörung …, … kommunistische Hetzer …, … Blitzkrieg mit Gottes Hilfe …, … siegen oder untergehen …“
Zwischenrufe unterbrachen die Rede: „Da Buildlmaler“ und „Hofbräuhauspolitika“ oder „Scheißdreck, vadammta“ und „da Hundskrüppe“.
Adam hatte alkoholselig eine Komödie aufführen, den Jammer der letzten Tage hatte er in Lachen verwandeln wollen. Angstwut sollte sich durch eine Verhunzung des obersten Deutschen seelische Linderung verschaffen. Nach einigen Minuten ließ ihn ein schales Gefühl des Überdrusses verstummen. Er stieg betreten vom Tisch und setzte sich neben Richard Heiler, der die Kräuterschnapsflasche nahm und die Wassergläser vollschenkte, „Prost“ rief und „Ex“ und dabei mit einer Hand unter dem Tisch sanft über einen Oberschenkel von Adam streichelte.
Alle sahen sich ernüchtert an.
Die Stimmung war verdorben.
Angst kroch durch ihre Glieder, Todesangst.
Wer würde sie verraten, der da oder der da oder doch …
War der nicht in der Partei?
Auf so eine Rede stand Erschießung: Beleidigung des „Führers“!
Und wer zuhörte: mindestens Strafbataillon, Tod auf Raten!
Sie soffen nun ernsthaft und systematisch, bis sie auf dem Boden zusammengekrümmt oder am Tisch in einer Kotzsoße eingeschlafen waren.
Adam lag mit zuckendem Oberkörper über dem Tisch und jammerte, dass es sein Sohn einmal besser haben sollte. „Na, für an Sohn moch i dees und hold i dees aus. Füar mei Frau und mein Sohn.“ Geheiratet hatte er zwei Tage, bevor er nach Russland musste. „Mei Désirée, mei Désirée, bleib’ ma treu.“
Geruchsschwaden von Urin und Gekotztem durchzogen den engen Raum.
Die russische Kälte biss sich durch die Ritzen der Bretter, als könnte sie so die Deutschen vernichten.
Dr. Richard Heiler, der neben Adam eingeschlafen war, befehligte als Chefarzt das kleine Lazarett in Wolchow. Er war allseits beliebt. Sein freundlich sonorer Bariton umschmeichelte die Zuhörer, griff ihnen samten ans Herz und beruhigte ihre Nerven, nahm Ängste, harmonisierte die kleine Gruppe zu einer eingeschworenen Gemeinschaft. Ruhig und sicher trat er Vorgesetzten und Untergebenen gegenüber. Seine kräftige, gedrungene Gestalt und sein breit-lächelndes Gesicht weckten Vertrauen: ein Arzt nach dem Herzen des Volkes, ein guter Kamerad.
Sein Inneres allerdings schottete er ab. Dort sehnte sich empfindsam eine lyrische Seele nach reiner Natur und reiner Liebe, dort füllten Melodien der deutschen Romantik sein Herz und rührten ihn zu Tränen – In einem Bächlein helle. Wer reitet so spät durch Nacht und Wind. Der Mond ist auf … und unseren kranken Nachbarn auch –
Doktor und Fotograf verstanden sich gut: kameradschaftlich vonseiten des Arztes, eifrig, unterwürfig, Zuneigung heischend, gierig nach Anerkennung vonseiten des Unteroffiziers, von Gestalt ein krasses Gegenbild des Arztes: hager, dünnlippig, mit dem starren Blick eines Idealisten. Hysterisch lustig erzählte er allen, dass „er koan Sitzadn“ hätte, dass sein „Oasch“ unruhig sei.
Die beiden erholten sich schnell vom Rausch, sattelten ihre Pferde und ritten eine vereiste Landstraße entlang, um sich einen klaren Kopf zu verschaffen. Sie waren der militärischen Führung dankbar, dass sie Pferde hatten, denn dies erwies sich oft als lebensrettend, wenn Kraftwagen im Schlemm stecken geblieben waren
Während des Ausritts philosophierten sie darüber, wie Gott das alles zulassen könne, warum deutsche Soldaten Dörfer niedergebrannt und Frauen, Kinder und Alte niedergeschossen hätten. Warum Gott nicht eingreife, trotz der Gebete um Frieden, warum Gott so eine Zerstörung der Welt zulasse. Wo denn Gott sei, fragte Adam litaneiartig immer wieder, aus einer tiefen Religiosität heraus, die ihn vor seiner Heirat darüber hat nachdenken lassen, ob er nicht Mönch werden sollte.
Plötzlich peitschte ein Schuss aus dem Dickicht eines nahen Wäldchens, an dem Doktor und Fotograf vorüberritten.
Adams Pferd bäumte sich getroffen auf und stürzte zu Boden.
„Scheiße!“
Das Pferd riss den Reiter mit und quetschte seinen linken Fuß zwischen Leib und Straße ein.
„Partisanen! Scheiße!“
Richard zügelte sein aufsteigendes Pferd und drängte es neben den am Boden zuckenden Gaul von Adam. Der schob seinen Körper hin und her, um sein linkes Bein zu befreien, und schrie dabei fürchterlich:
„Brocha! Vareckte Scheiße! Kruzifix!“
Aus dem Leib des sterbenden Pferdes quoll stoßweise tiefdunkelrotes Blut.