Waldschmidt lesen

Was kann jemand wie ich Ihnen, den Waldschmidtvertrauten, über den Dichter erzählen, gar Neues erzählen.

Vielleicht, wenn er sich mit einen fremden Blick Waldschmidt nähert. Wenn er unvoreingenommen einen Text liest und seine Gedanken dazu äußert. Aus dieser Fremdheit möchte ich Ihnen meine Überlegungen zu dem Buch „Die Fischerrosl von St. Heinrich. Ein Lebensbild vom Starnberger See um 1840“ darstellen.

Die Grundfrage, die sich mir stellt, ist: Lohnt sich die Lektüre der Bücher von Waldschmidt? Wie lese ich sie, wie liest man sie heute?

Ich möchte Ihnen mit meinem Vortrag nachweisen, dass es gerade angesichts eines beginnenden Weltkriegs, der giergesteuerten Konsumwelt und des hysterischen Lebenstempos eine Notwendigkeit wäre, dieses Buch von Waldschmidt zu lesen und vor allem zu beherzigen. Das Buch beschreibt das, was unsere Zeit verloren hat, es macht uns die Mängel der gegenwärtigen Gesellschaft bewusst.

Schon der Titel eröffnet Dimensionen für das Nachdenken.

Der bestimmte Artikel zeigt, dass es sich um eine bekannte, anerkannte und erkennbare Person handelt, nicht um einen anonymen Großstadtmenschen. Die Hauptfigur hat Charakter (übrigens auch die anderen Figuren), ist kein Schablonenmensch oder Marionette, wie sie Heinrich von Kleist in seinem Essay „Über das Marionettentheater“ darstellt.

Die Hauptfigur heißt nicht etwa Rosamaria oder so ähnlich, sondern trägt die Verniedlichungsform „Rosl“. Damit ehrt Waldschmidt eine kindlich-naive Lebensweise und ein ehrliches Gemüt, wie es in der Bibel vorbildhaft gefordert wird:

„Wahrlich ich sage euch: Es sei denn, daß ihr umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.“ (Matthäus 18,3).

Dieses Idealbild von Kinder, das »weise Kind«, vertritt Reinheit und Natürlichkeit. Es fehlt dieser das Raffinement der höfischen Verlogenheit und Theatralik. Ein Gegenmodell zum „weisen Kind“ im Sinne von Matthäus könnte man heute die Waffenhändler oder Hedge Fond Verwalter oder Fußballfunktionäre nennen. Eine „Kinderwelt“, die dem Kind eine natürliche Weisheit zuordnet, ist ein erstrebenswertes Modell für eine friedliche und liebenswerte Welt.

Dass auch ein Mädchen im 19. Jahrhundert eine männliche Funktion ausfüllen kann, zeigt das „Fischer“ im Namen. Diese Figur von Waldschmidt ginge heute als emanzipierte Frau durch, die ihre sogenannte Fraulichkeit nicht auf dem Altar der Berufsausübung geopfert hat.

Der Titel suggeriert, dass die Fischerrosl in Verbindung mit einem Heiligen steht, dem heiligen Heinrich. Weltlichkeit und Gläubigkeit, Fischen und Beten sind vereint, beide bedingen einander; beide gehören zur Ganzheit des Lebens. Eine Einseitigkeit wäre fatal und führte zur Störung der erreichten Harmonie.

Das Wort Heinrich hat sich aus dem althochdeutschen Heimrich entwickelt. Heim steht für Haus und Hof und das „rich“ für reich. Übersetzen würde man Heinrich mit Hausherr oder Herrscher des Hauses. Zurzeit Waldschmidts gehörte Heinrich zu den zehn beliebtesten Jungennamen. Heinrich der Heilige (973/978 – 1024) war Herzog von Bayern und römisch-deutscher Kaiser (neben vielen anderen Funktionen). Warum war er so berühmt? „Heinrich II. war ein echt katholischer Kaiser, seine Gesetze standen mit dem Gesetze Gottes im Einklang“,  so schildert ein Autor 1886 den Heiligen. So fügt sich der Kaiser ebenfalls ein in Idyllenmosaik, wie es das 19. Jahrhundert aus dem Mittelalter gemacht hat und verklärt hat.

Im Untertitel spricht Waldschmidt von „Lebensbild“. Das beinhaltet eine Gesamtschau des Lebens in einer Region. Ein Bild besteht aus dem Bildinhalt und dem Rahmen. Jeder Mensch agiert in einem Rahmen. Die Bildfläche ist der Handlungsraum, der Rahmen gibt der Geschichte einen Halt. Der Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin kennt die offene und geschlossene Form eines Kunstwerks. Mit der Fischerrosl liegt eine geschlossene Form vor, denn die Personen nisten sich in eine Gesellschaft ein. Im sogenannten Rahmen eines Menschen sind verhaltens- und denkleitende Vorstellungen verankert, die dem Menschen Festigkeit und Orientierung geben. Ein Handeln nach einem einheitlichen Verhaltenskodex zieht sich durch das ganze Buch. Jeder weiß, was richtig ist und was falsch. Die Eifersucht bringt eine gewaltige Störung in das Bildgleichgewicht. Die Personen finden im Laufe der Handlung wieder zu ihrem rechten Ort zurück, denn wer einen Rahmen hat, kann sich nicht verlieren.

Rahmen, die uns Heutige prägen, sind nur bedingt auszumachen. Im Grunde spielt die Vorstellung eines Rahmens kaum eine Rolle. Im Gegenteil, wir sind stolz auf Offenheit, Multiperspektivität, Multitasking, cross over, Spontanität, Post-Strukturalismus, Orientierungslosigkeit, Unregierbarkeit, Entwertung aller Werte. Wir sind in einer ungebändigten Beliebigkeit gelandet, die auch den letzten Sinn aus dem Leben treibt. Also ein Gegenteil von Lebensbild, beinahe eine Lebensbildzertrümmerung.

Die Erzählung spielt überwiegend in der Natur, am Starnberger See. Das Wetter und die Landschaft strukturieren das Leben der Menschen. Als Fischer sind sie von der Natur abhängig, sie lieben sie, sie fürchten sie, sie leben mit ihr. Unser Verhältnis zur Natur kann man als Naturferne bezeichnen. Für viele ist die Natur Freizeitindustrie.

Bleibt noch das Jahr 1840 zu untersuchen. Den historischen Hintergrund will ich mit drei Aspekten andeuten: Richard Wagner, die 48-iger Revolution und die erste Eisenbahn 1835 in Deutschland. Die Fischerrosl lebt vor diesem Hintergrund: Bei Richard Wagner findet in einem Gesamtkunstwerk die Kunst zu einem religiösen Charakter wie im „Parsifal“. Die Eisenbahn steht für die technische Modernisierung der Welt, auch für die Neurotisierung durch die Railwayspin und die 48-iger Revolution für die gesellschaftliche Umschichtung von Feudaladel zur Bürgerlichkeit.

Allein die Analyse des Titels genügt, um in seinem Kern eine Lebenslehre des Ausgleichens ist erkennen. Um zu sehen, dass in dem Buch ein umfassendes Programm zur idealen Lebensplanung und – führung mit der Anpassung der Menschen an die Gegebenheiten (Traditionen) entwickelt wird.

Gehen wir etwas tiefer in den Text.

Ich lese Ihnen nun die Sterbeszene des Fischerpauli vor:

(Seite 168)

Die glückliche Lebensbilanzierung

Der Fischerpauli stirbt einen schönen Tod. So nennt man die Todesvorstellungen, bei denen der Sterbende im Kreise seiner liebenden Familie sich mit Trostwörtern und Lebensklugheiten auf das Jenseits vorbereiten lässt. Der Sterbende hat nun die Gelegenheit, seinen Nahestehenden mit weisen Ratschlägen bei der Lebensführung zu helfen, moralische Werte zu übermitteln, sich für manches zu entschuldigen, sein Leben zu bilanzieren.

Dem Begriff schön wurden zu Waldschmidts Zeit formelhaft gut und wahr zugeordnet. Die Trias das Gute, Wahre und Schöne bildete den Rahmen für die bürgerliche Kultur im 19. Jahrhundert.

Was schön ist, muss gut sein und wahr. Das Gute bezeichnet das rechte Maß, das Wahre das Bemühen um das geistige Erkennen der Welt und das Schöne als Begehren einer moralischen Kategorie.

Der Übergang vom Leben in den Tod geschieht kaum merkbar. Wer auf Erden in rechter Weise lebt, spürt kaum einen Unterschied. Mit dem beruflichen Triumph („hundertundvier Pfund“) verankert der Fischerpauli sich im Gedächtnis der Gemeinschaft. Die geschichtliche Erinnerung an die lange Zeit des Lebens (buncentauro) betont den langen Atem und die Langmut, die man braucht, eine große Sache zu bearbeiten. Das schöne Wetter am Sterbetag gehört zum schönen Tod wie die versammelten Lieben und die Feststellung „I moan, i bin im Paradies.“ Der Segen eines schönen oder guten Lebens und Todes überträgt sich auf die Nachkommen. Diese Schönheit gilt als unveränderliche Universalie für jetzt und die Zukunft. Bürgerliche Lebenskultur for ever.

Heutige Lebenspläne sind von Zusammenbrüchen gekennzeichnet: Scheidung, Arbeitslosigkeit, Ehekrisen, Umzüge usw. Im Alltag wie in der Literatur hat der Ausnahmezustand Konjunktur, der Mensch in einer Krise, die er kaum bewältigt.

Das Leben wird nicht eingerahmt durch das Gute, Schöne und Wahre, sondern durch das Sensationelle, Emotionale und Einzigartige. Der Fischerpauli bilanziert sein Leben und ist damit zufrieden. Bei vielen Gegenwärtigen herrscht das Gefühl vor, etwas versäumt zu haben.

Waldschmidt gilt als der Förderer, wenn nicht gar als Gründer, des Tourismus in Bayern. Dies hat er wunderbar in die Sterbeszene eingebaut:

Tourismus

Zwischen zwei Schiffen spielt sich das Leben des Fischerpauli ab: zwischen dem Bucentauro, dem Prunkschiff der Könige, das eine Imitation des Prunkschiffes der Dogen von Venedig ist, und dem Bucentaur, dem Dampfschiff, das seit 1851 den See befährt. Das erste ein Symbol des Feudalismus, das zweite des bürgerlichen Kapitalismus. Von letzterem erwarten die Fischer den Verfall der bewährten Lebensweisen. Die Industrialisierung bedroht die Wertewelt des Jahrhundertbeginns.

Allerdings nimmt in den Augen des Autors die Geschichte nicht den befürchteten negativen Lauf. So schreibt der Autor/Erzähler in „Ambach 1884“: „Prächtige Dampfschiffe durchfurchen seine [des Starnberger Sees] Fläche nach allen Richtungen und Hunderttausende kommen jährlich zu seinen Ufern, um sich an seinem Zauber zu erholen von der Mühsal des Lebens.“ (S 169)

Voller Stolz feiert Waldschmidt den beginnenden Massentourismus.

Trotzdem: Die alten Zeiten mit ihren Werten dienen als Vorbild für ein gutes Leben der Menschen. Dieses hat in der Fischerrosl Gestalt gewonnen.

 

Das gute Leben

Bisher habe ich mich wenig um die Handlung gekümmert. Dies hole ich jetzt nach. Das Handlungsschema könnte man so beschreiben. Am Anfang steht Harmonie, die aus dem Gleichgewicht kommt und durch Rosl und andere Heilkräfte wiederhergestellt wird.

Und das auf verschiedenen Ebenen. Kern der Handlung ist das Finden eines Ehepartners. Zu Beginn scheinen Rosl und Klara verteilt. Dann schert der Zachariesl-Toni aus der Anfangssituation aus und will plötzlich Rosl, bis alle Kräfte von Natur und Gesellschaft die vorherbestimmte Harmonie wiederherstellen. Die Handlung ordnet sich dem inneren Anliegen des Autors um moralische Belehrung in leichter Lektüre unter.

Das gute Leben: die Fischerrosl

Die Fischerrosl

Sie ist nicht nur schön, arbeitsam und gläubig, sie ist auch Lebensretterin. Den Vater ihres Verehrers Castl hat sie einmal vom Tode gerettet, als er mit dem Fuhrwerk verunglückte. In dem Fischerrosl zeichnet Waldschmidt eine profane Heilige des 19. Jahrhunderts.

(Vorlesen Seite 10 f.)

Die Beschreibung des Mädchens stellt beherzt die zwei Seiten dar. Die ideale Seite des Wahren, Guten, Schönen strahlt über alle Weltlichkeit und Wirklichkeit hinweg. Denn diese Person hat ihre Mitte gefunden. Diese verliert sie auch nicht durch Berufstätigkeit, damals für Frauen etwas ungewohnt. Die innere Schönheit ist so groß, dass sie die unschöne Arbeitskleidung wirkungslos macht.

Die Heilerin

Und etwas wird Rosl als profane Heilige noch zugeschrieben: die Kraft zu heilen.

Der Zachariesl Antoni ist auf die schiefe Bahn geraten. Saufen und Faulenzen haben sein Leben bestimmt. Seine Verliebtheit in Rosl hat ihm die Kraft zur Änderung seines Lebens gegeben. Er gehört wieder zur Gemeinschaft.

Hören wir, wie der Vater von Toni im Wirtshaus von diesem Wunder berichtet. (Seite58)

Manche Menschen unserer Zeit mögen das als Kitsch bezeichnen. Das könnte man, wenn Waldschmidt nicht so gekonnt ein echtes Anliegen in dieser Erzählung versteckt hätte. Er wollte die Tradition mit der Moderne harmonisieren. Ein Projekt, das bisher gescheitert ist und von dem wir uns aktuell politisch immer weiter davon entfernen.

Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen hoffentlich nicht den Appetit verdorben, weder den Appetit auf die Lektüre von Waldschmidts Werken noch den Appetit auf das Essen aus seiner Zeit.

Davon zu träumen, dass der Kini wieder über den Starnberger See segelt, dass Religion eine dominante Rolle spielt, dass Bescheidenheit und Treue erwünschte Tugenden sind, ist erlaubt, wenn man nicht erwartet, dass diese Träume sich erfüllen. Würde man so leben, als hätte die Zeit sich nicht geändert, käme man eher in eine Klinik. Eine Fischerrosl mag es gegeben haben, jetzt gibt es sie sicher nicht mehr.

Aber man kann nach der Lektüre hoffentlich in sich Persönlichkeitsanteile entdecken, die verschütt gegangen sind oder nicht modern sind. Man kann von diesem Buch lernen, dass das Bemühen, eine anständige Persönlichkeit zu werden, Anstrengung verlangt. Solchen Charakter bei sich zu entwickeln, verlangt viel Mühen. Man muss sich strengen Regeln unterwerfen. Dann aber blühen die inneren Fähigkeiten auf, die sonst verkümmern. Um die Welt zu harmonisieren, muss man bei sich anfangen. Das nehme ich aus meiner Beschäftigung mit Waldschmidt mit, den zerstörerischen Kräften in der Gegenwart muss man die heilenden aus der Zeit Waldschmidts zu Hilfe rufen. Wenigstens Teile des verlorenen Paradieses wären hilfreich.

Waldschmidt lesen? Ja. Aber auch Waldschmidt leben.

Vielen Dank

Maximilian Schmidt: Die Fischerrosl von St. Heinrich. Ein Lebensbild vom Starnberger See um 1840; Wambach 2000

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert